Der Schacht

Er hatte das Ziel aus den Augen verloren. Seit Tagen waren sie unterwegs und er fragte den, der vor ihm ging: «Wohin?» Der lachte nur und sagte: «Weiter, immer weiter.» Er drehte sich um und fragte den, der hinter ihm ging. Aber dieser erwiderte: «Was fragst du mich? Ich folge dir.» Und sein Blick war kalt und abweisend. Also ging er weiter, er wusste nicht wie lang. Die Landschaft zog an seinen Augen vorüber, ewig und unveränderlich, der immergleiche Anblick. War es denn möglich, dass es niemand bemerkte, dass niemand begriff, dass sie im Kreis liefen und so nie ihr Ziel erreichen würden?

Da trat er aus der Reihe heraus und sprang in den Graben. Doch, wie wundersam, niemand würdigte ihn auch nur eines Blickes. Sein Hintermann zuckte nur kurz zusammen, als wäre er kurz eingenickt, und schloss dann zügig zu seinem Vordermann auf und in einer langen, nicht enden wollenden Kolonne zogen die sich verdächtig ähnelnden Gestalten vorüber. Er drückte sein Gesicht tief in die Erde und das Laub, ohne sich darüber klar zu sein, warum. War es, damit ihn nicht doch einer entdecken und ihn im letzten Augenblick noch packen würde, um ihn zu fragen, was er sich dabei gedacht hätte? Oder war es, weil er vor Scham in der Erde versinken wollte? Über ihm hörte er die Schritte, die nicht enden wollenden vorwurfsvollen Schritte seiner Gefährten.

Er war schon selbst halb zu Erde geworden, seine Kleider von Moder und Nässe durchdrungen und sein Gesicht eine Maske aus Schlamm, eher er sich traute, auf der anderen Seite des Grabens empor zu kriechen. Wie ein Tier krallte er sich in den Boden und kroch langsam in den Wald. Und dort lag er dann unter freiem Himmel – und die Sterne wunderten sich und schauten ihn neugierig an. Dann stand er auf und ging, noch schwankend und unsicher auf den Beinen, davon. Er ging wie im Traum, alles war neu, und aufregend. Allein, wenn er daran dachte, dass er jetzt hingehen konnte, wo er wollte, wurde ihm ganz schwindelig.

Nicht lang und er traf zwischen den Bäumen auf eine große, ebenmäßig gebaute Mauer, die in gerader Linie durch den Wald zu verlaufen schien. Sie war zu hoch, und viel zu steil und glatt, als dass er sie durch Klettern hätte überwinden können. Er presste auch gleich ein Ohr dagegen und horchte und schaute in beide Richtungen, ob es nicht irgendwo einen Wachturm oder einen Durchlass gäbe. Doch er sah und hörte nichts. Er klopfte. Nichts. Er rief. Wieder nichts, nur das dumpfe Echo seiner eigenen Stimme.

In welche Richtung sollte er gehen? Er sprach mit sich selbst, während er ungeduldig hierhin und dorthin lief, und entschied sich dann, unschlüssig, aber nicht fähig, länger zu warten, in die Richtung zu gehen, in der die Mauer linker Hand von ihm blieb und rechts der Wald. Bald bemerkte er, dass es in südliche Richtung ging. Es war Nachmittag und er ging im Schatten der Mauer, während ein gerader Streifen des Lichts auf die Bäume fiel und sie langsam in einen warmen, purpurnen Glanz tauchte.

Er begegnete niemandem. Er erreichte auch weder einen Turm, noch ein Tor, noch einen anderen Durchlass. Er ging immer weiter und versuchte sich ganz auf die Mauer zu konzentrieren. Er suchte nach Unebenheiten, nach Vorsprüngen, nach irgendeiner kleinen Veränderung, nach einem Spalt oder einer Lücke, die es ihm wenigstens ermöglicht hätte, zu erspähen, was sich dahinter verbarg. Doch er fand nichts dergleichen. Glatt und makellos zog die Wand an seinen Augen vorüber, ewig und unveränderlich, der immergleiche Anblick. Da kamen ihm Zweifel, ob er in die richtige Richtung gegangen war, ob er richtig gewählt hatte – und er lehnte sich gegen die Wand und ruhte aus. Doch es machte keinen Sinn, umzukehren. «Irgendwo muss ja ein Ende sein oder ein Eingang», sagte er sich.

Hin und wieder hob er einen Stein auf, trat einige Meter von der Mauer zurück und warf ihn mit ganzer Kraft hinüber – und lauschte. Doch es war nichts zu hören, rein gar nichts. Es war fast schon ein bisschen unheimlich. Auch schienen auf der anderen Seite keine Bäume zu stehen – oder sie waren nicht groß genug, um über die Mauer zu reichen. Mehrfach hatte er versucht einen Baum diesseits der Mauer zu besteigen, um hinüberzuschauen. Aber die Stämme waren massiv und hoch. Sie boten seinen Händen keinen Halt. Die Bäume schienen ebenso abweisend und widerspenstig zu sein wie das Bauwerk selbst. Wenn ein großer Ast hoch über den Rand hinausragte, kam es ihm manchmal so vor, als reichten sich der Wald und die Mauer verschwörerisch die Hand.

Er ging weiter, immer weiter. Aber langsam ließ seine Aufmerksamkeit nach und seine Gedanken schweiften ab. Er stellte sich in immer fantastischeren Bildern vor, welche Geheimnisse – oder welches Grauen – ihn auf der anderen Seite erwarten würden. Irgendwann hatte er aufgehört zu rufen und die Mauer abzuklopfen. Er hatte aufgehört, Steinchen hinüberzuwerfen. Er hatte aufgehört, die Mauer nach Besonderheiten abzusuchen, denn es gab keine. Es war immer das gleiche damit.

Aber, als er abends im Schatten der Mauer saß und verschnaufte, bemerkte er, dass sich doch etwas verändert hatte. Es war noch nicht allzu spät und dennoch waren die Spitzen der Bäume, die der Mauer am nächsten standen, bereits in Schatten getaucht. Er ging einige Schritte in den Wald, drehte sich um und schaute hinauf. Es gab keine Zweifel, die Mauer war höher als zuvor. Es mussten wenigstens zwei oder drei Meter Höhenunterschied sein.

Die Entdeckung stachelte seinen Optimismus an und er hoffte, jetzt bald den ersehnten Durchgang zu finden. Wie konnte es denn auch anders sein? Dass die Mauer hier höher war, konnte doch nur bedeuten, dass bald darauf ein mächtiger Wachturm oder das Tor zu einer großen Stadt kommen mussten. Er lief schneller. Er rannte und blickte ungeduldig in die Ferne, ob er nicht von Weitem schon den Turm sehen könnte oder die Fahne, die über alles hinausragte. Und dann sah er tatsächlich etwas. In der Ferne schimmerte etwas in der Mauer. Es sah wie ein helles Fenster in die andere Welt aus. Er rannte und seine Lungen brannten. Als er die Stelle erreicht hatte, sah er, was es war. Es war ein Schild und darauf stand: «Vorsicht! Bissiger Hund.»

Das konnte nicht wahr sein! Das konnte nur ein schlechter Scherz sein! Er sank erschöpft auf die Knie. Was sollte das bedeuten? Er fühlte sich augenblicklich sehr unwohl und schaute sich nach allen Seiten um. Was sollte er jetzt tun? Umkehren? Nein, und abermals nein. Er wollte wissen, was sich hinter dieser Sache verbarg und irgendetwas sagte ihm, dass jetzt der Weg, der vor ihm lag, sehr viel kürzer war, als der Weg, den er bis hier zurückgelegt hatte. Er war dem Ziel näher als jemals zuvor. Das spürte er. Man hatte ihn also gewarnt. – Jemand wollte ihn davon abhalten, weiterzugehen, wollte ihn davon abbringen, herauszufinden, was es mit der Mauer auf sich hatte. Aber er würde weitergehen und es herausfinden. Er trat ein paar Schritte zurück und schleuderte das Schild über die Mauer, die inzwischen so hoch war, dass er seine ganze Kraft dazu aufbringen musste, es überhaupt noch zu schaffen. Und in die Stille rief er so laut und so mutig er konnte: «Nein.»

Die Mauer antwortete ihm mit dem hohlen Echo seiner eigenen Stimme.
So setze er seine Wanderung fort und wann immer er eine Pause einlegte, trat er als erstes ein Stück in den Wald hinein, musterte die Höhe der Mauer und schrie aus Leibeskraft und Überzeugung: «Nein!» Er hatte es ein paar Mal so gemacht, da passierte etwas Seltsames: Sein Echo antwortete zweimal. Einmal – wie gewohnt – von vorn, reflektiert von dem massiven Bauwerk, das ihm die Stirn bot, und ein zweites Mal – und so leise, dass er es beinah überhört hätte – aus dem Wald: Nein! Erschreckt drehte er sich um. Da war etwas hinter den Bäumen. Er ging noch ein Stück tiefer in den Wald, der ungewohnt düster war zu dieser Stunde, doch er brauchte nicht weit, um zu entdecken, was es war. Eine andere, eine zweite riesige Mauer war es, die sich dunkel und drohend über den Bäumen erhob.

Er saß in der Falle. Das war ihm jetzt vollkommen klar. Er wusste nicht mehr, wie lange er im Gras lag, halb besinnungslos an einen Baum gelehnt und wie lange er diese zweite Mauer angestarrt hatte, die sich in nichts von der ersten zu unterscheiden schien. Irgendwann tanzten ein paar Lichtflecken zwischen den Ästen hindurch, die ihn weckten. Er stand auf – es half ja alles nichts – er musste dem ins Auge sehen, was ihn da erwartete. So ging er, jetzt die Mauer zur rechten, was ganz neu und ungewohnt war. Aber er wechselte auch wieder durch den Wald zu der anderen hinüber. Er stolperte über die Wurzeln der Bäume und weinte bittere Tränen. Er hatte sich vertan. In die andere Richtung hätte er gehen müssen, als er auf die Mauer stieß. Aber jetzt war es zu spät.

Kurze Zeit später erreichte er das Ende des Waldes. Die Sonne war vor einigen Stunden untergegangen und die kalte, silbern funkelnde Sense des Mondes schob sich langsam zwischen den knöchernen Ästen des letzen Baumes in Stellung, um den dunklen Schacht vor ihm etwas auszuleuchten. Er stand zwischen den beiden riesigen Mauern. Sie verschmolzen mit dem Horizont und der Dunkelheit zu einem gähnenden Nichts. Es war, als hätte sich vor ihm der klaffende Schlund der Hölle selbst aufgetan. Er müsste nur noch einen Schritt tun, dann fiele er von selbst hinein.

Er setze sich an den Fuß des Baumes und schlief. Er träumte davon, wie die Mauern auf ihn zukamen, um ihn zu zerquetschen. Dann wachte er auf und bekam keine Luft – und der Sternenhimmel von einst, der ihm so weit und unendlich vorgekommen war, war jetzt auf einen schmalen Streifen zusammengeschrumpft. Kalt und abweisend sahen die Sterne auf ihn herab.

Das Schreckensbild der Nacht war auch dem Tageslicht nicht gewichen. Er redete sich ein, dass es am Ende des Schachtes eine Tür geben müsse, einen Durchlass oder irgendetwas, das seine lange Reise rechtfertigen würde. «Irgendwo muss ja ein Ende sein», sagte er noch einmal zu sich, stand auf und setzte seinen Weg fort.

Die Mauern rückten näher. Jede Stunde um einen Meter, und soweit sich das aus dieser Perspektive noch schätzen ließ, wuchsen sie auch immer noch in die Höhe. Auch schien es ihm, als würde der Weg langsam abfallen. Er rief sein trotziges «Nein!» jetzt in die Richtung, in die er lief.

Immer tiefer ging es und immer schmaler wurde der Weg. Vor ihm erhoben sich zwei gewaltige Wände, glatt und makellos, hundert Meter oder mehr, ein einschüchterndes Bauwerk, das ihn daran zu erinnern schien, wie klein und unbedeutend er war. Die Sonne schien während der Mittagszeit für einige Minuten frontal in den Schacht, der nur noch zwei Meter in der Breite maß. Er vermochte nicht zu erkennen, was vor ihm lag.

Er schaute nicht zurück, er schaute nicht nach oben, denn davon wurde ihm schwindelig. Er richtete seinen Blick geradeaus und schritt langsam voran. Bald konnte er beide Wände zugleich mit den Händen berühren und am Ende waren die Mauern bis an seinen Schultern herangerückt.

Die unerbittlich fortschreitende Verjüngung des Weges zwang ihn bald, seitlich weiterzugehen. Ein Schmerz begann sich von seinem Nacken über die Schulter und den ganzen Rücken auszubreiten. Auch war die beschwerliche Reise nicht schadlos an ihm vorüber gegangen. Immer wieder blieb er erschöpft stehen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die die hintere Wand – oder falls ihm das nach einiger Zeit zu beschwerlich wurde – mit der Stirn gegen die Wand vor ihm. Da erschien es ihm für einen Augenblick als hätte er den Tross nie verlassen, als würde er noch immer seinen Gefährten folgen auf dem immergleichen Weg, der sie, ohne es zu merken, im Kreis führte. Da war er wieder, sein Vordermann – er brauchte nur die Hand ausstrecken, brauchte sich nur ein wenig nach vorne lehnen. Und er brauchte nur ein winziges Stück zurückzufallen, da schubste ihn der Hintermann, als wollte er ihn ermahnen, wieder aufzuschließen.

Er klammerte sich an die Wände und zog sich Meter um Meter vorwärts. Er schaute noch einmal nach oben. Es musste Nacht sein. Es war ja ganz finster und nicht das Licht eines einzigen Sterns wollte ihm noch Orientierung geben. Er tastete sich vorwärts. Er klopfte die Wände ab. Hier irgendwo musste es sein – hier irgendwo. Er musste aufpassen, dass er nicht im letzten Moment daran vorbeilief. Die Wände begannen ihn zu umarmen und er drückte seinen Körper dazwischen wie einen Keil. Ganz sicher nur noch ein kleines Stück, dann würde er da sein.

Aber es ging nicht mehr weit. Bald war er derart eingeklemmt zwischen den Wänden, dass nichts mehr vor und nichts mehr zurück ging. Er steckte fest. Er suchte mit den Füßen nach Halt, um sich doch noch etwas vorwärts zu drücken. Er presste seinen Kopf zwischen die Mauern und spannte seinen Kiefer an, als könnte er mit seinem Schädel den Schacht aufspalten und hineinrutschen. Er tastete verzweifelt mit einer Hand vor sich in der Dunkelheit herum, einen Griff, einen Vorsprung in der Mauer zu finden, an dem er sich herausziehen könnte. Es musste doch hier irgendetwas sein!

Aber die Hand griff ins Leere. Fest und unbeweglich standen die Mauern und ihr ganzes Gewicht begann ihn zu erdrücken. Hier war nichts. Er schaute hinab in die Dunkelheit und mit der letzten Kraft rief er in das Unergründliche: «Was ist das?»

FOTO: The Wall von Mike Kniec, lizensiert unter CC BY 2.0