Alles fließt

Wir brauchen nicht das ganze Universum betrachten, um die Vergänglichkeit der Dinge zu erkennen. Wir brauchen nur unseren Körper, unsere Sinneseindrücke und unseren Geist als Labor zu nehmen, sie zum Gegenstand unserer aufmerksamen und systematischen Beobachtung zu machen.

Körper

Wenn wir uns die Haare schneiden lassen, wenn wir unsere Fingernägel kürzen, wenn der Schorf von einer verheilten Wunde abfällt, können wir die Vergänglichkeit sehen, wenn wir wollen. Sie ist ganz alltäglich. Wenn wir Staub wischen, wenn wir Staub saugen, so ist uns meist nicht bewusst, dass dieser Staub zu einem nicht unwesentlichen Teil aus abgestorbenen Hautzellen unseres Körpers besteht. Denn unsere Epidermis erneuert sich beständig. Staubwischen wäre also eine wunderbare Meditation über die Vergänglichkeit unseres Körpers und die Vergeblichkeit unseres Tuns. Denn, wo wir vor einer Woche gewischt haben, liegt bereits neuer Staub.

Zu dieser Betrachtung passt wunderbar dieses Zitat aus dem ersten Buch Mose:

„Dein ganzes Leben lang wirst du im Schweiße deines Angesichts arbeiten müssen, um dich zu ernähren – bis zu dem Tag, an dem du zum Erdboden zurückkehrst, von dem du genommen wurdest. Denn du bist aus Staub und wirst wieder zu Staub werden.“

– Die Bibel, 1. Mose, Kapitel 3, Vers 19

Noch etwas poetischer, noch etwas mystischer hat den gleichen Gedanken der persische Dichter Rumi in Worte gefasst:

„Schau die Staubteilchen an,
die sich im Licht nah beim Fenster bewegen.

Ihr Tanz ist unser Tanz.

So selten hören wir diese innere Musik,
aber trotzdem tanzen wir nach ihr…“

– Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī, in „Die Musik, die wir sind“

Ich sagte bereits, dass die Vergänglichkeit zur Voraussetzung wird, dass Neues entstehen kann. Diesen Kreislauf von Vergehen und Werden  können wir uns auch schon anhand unserer abgestorbenen Hautzellen vergegenwärtigen. Wir müssen nur daran denken, dass die Bakterien auf unserer Haut und die Milben in unseren Betten und eventuell die Silberfischchen in unseren Badezimmern von diesen abgestorbenen Zellen leben. Der kleine Tod unseres Körpers, sein fortwährendes Absterben wird zur Bedingung für neues Leben.

Wie eine Flamme oder ein Fluss

Auch unser eigenes Überleben setzt den Tod und das Vergehen anderen Lebens voraus. Denken wir an unser Essen. Selbst, wenn wir Vegetarier oder Veganer sind, müssen lebendige Wesen, Pflanzen und Pilze wachsen, blühen, gedeihen und Früchte tragen, damit wir uns ernähren können. Wir essen Früchte, wir essen Gemüse, wir essen Wurzeln, wir essen Blätter. Einige von uns essen Fleisch, Eier und Milch. Jede Woche, jeden Tag zerkauen wir kiloweise Nahrung, ohne daran zu denken,  dass es ein Akt der Zerstörung und der Vergänglichkeit ist. Aber wir würden wahrscheinlich trotzdem verhungern, wenn in unseren Därmen nicht Billionen von Organismen (Bakterien, Archaeen und Eukaryoten) leben würden, die diese Biomaterie zerkleinern und für uns in Proteine, Vitamine, Fettsäuren und andere Stoffwechselprodukte umwandeln würden, die unser Körper aufnehmen kann.

Wir machen uns das nicht klar. Deshalb haben wir eine falsche und ganz verdrehte Vorstellung von unserem Körper. Wir betrachten ihn oft nur als Form, als etwas Beständiges und Verlässliches. Wir übertragen unsere Vorstellung von materiellen Dingen auf ihn, die fest sind und formbar nur durch unseren Willen. Dass unsere Herz schlägt – ohne unsere Kontrolle, dass sich die Zellen in unserem Körper teilen – ohne unser Wissen, dass unser Atem ein- und ausströmt – ohne eigens unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass unser Körper dem Altern unterworfen ist – ohne Rücksicht auf unsere Wünsche, das verdrängen wir.

„Mein Körper ist nicht wie ein typisches materielles Objekt, ein stabiles Ding. Er gleicht mehr einer Flamme, oder einem Fluss. Ständig fließt Materie durch ihn hindurch. Die Bausteine werden immer und immer wieder ersetzt.

Ein Stuhl oder ein Tisch ist stabil, weil die Atome an ihrem Platz bleiben. Die Stabilität eines Flusses dagegen ergibt sich aus dem ununterbrochenen Strom des Wassers.

98 Prozent der Atome unseres Körpers werden jedes Jahr ersetzt. 98 Prozent! Wassermoleküle bleiben zwei Wochen in unserem Körper (und sogar noch kürzer, wenn es sehr warm ist), die Atome in unseren Knochen halten es ein paar Monate dort aus. Manche verweilen jahrelang an ihrem Platz. Aber fast kein einziges Atom harrt in Ihrem Körper von der Geburt bis zum Tod aus.

Das, was konstant an Ihnen ist, ist nicht materiell. Ein Mensch verleibt sich jedes Jahr durchschnittlich 1,5 Tonnen Materie ein, in Form von Essen, Trinken und Sauerstoff. Diese Materie begreift, was es heißt, Sie zu sein. Jedes Jahr wieder. Neue Atome müssen lernen, sich an Ihre Kindheit zu erinnern.

Man kennt diese Zahlen seit einem halben Jahrhundert, vor allem von Studien mit radioaktiven Isotopen. Der Physiker Richard Feynman sagte schon 1955: ‚Die Kartoffeln von letzter Woche! Sie können sich jetzt daran erinnern, was in Ihrem Kopf vor einem Jahr vor sich ging.‘

Warum ist diese einfache Erkenntnis nicht auf der Allzeit-Top-10-Liste der wichtigen Entdeckungen?“

– Tor Nzrretranders, „Der Fluss des Lebens“ in Tagesspiegel

Mit dieser Idee, dass der eigene Körper kein festes, gegebenes Ding ist, sondern eher einem Fluss ähnelt, nähern wir uns einer uralten Vorstellung an : „Panta rhei“ („Alles fließt“). Sie geht auf einen antiken Philosophen zurück, der rund fünfhundert Jahre vor Christus im griechischen Ephesos lebte. Er beobachtete die Natur sehr genau und zog daraus seine eigenen Schlüsse:

„Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“

„Bei einem Fluss ist es nicht möglich zweimal hineinzusteigen in denselben – auch nicht ein sterbliches Wesen zweimal zu berühren und zu fassen im gleichen Zustand – es zerfließt und wieder strömt es zusammen und kommt her und geht fort.“

– Heraklit von Ephesos

Atmung

Diesen Fluss des Lebens können wir erkennen, wenn wir die Aufmerksamkeit auf unsere Atmung richten. Mit jedem Einatmen nehmen wir Sauerstoff auf. Mit jedem Ausatmen geben wir Kohlenstoffdioxid ab. Es ist ein fundamentaler Prozess, der uns am Leben hält. Und zugleich ist jeder Atemzug ein Universum für sich, ein Äquivalent für alle anderen körperlichen Vorgänge. Er enthält das Leben. Er versinnbildlicht die Bedingungen des Lebens. Wenn wir aufhören zu atmen, würde auch unser Leben enden. Er enthält die Veränderungen und einzigartigen Momente des Lebens. Mal ist der Atem tief und ruhig. Mal ist er kurz und flach. Mal ist die Luft, die einströmt kalt und feucht. Mal ist sie warm und trocken. Er enthält auf gewisse Art sogar unseren Geist und spiegelt die Gefühle und Gedanken wider, die uns bewegen. Wenn wir aufgeregt sind, geht unsere Atem schneller. Wenn wir ruhig sind, ist auch der Atem entspannter. Wenn wir Angst haben, stockt der Atem usw. Aber jeder Atemzug enthält auch die Vergänglichkeit. Er kommt und geht. Zwölf bis fünfzehn Mal pro Minute können wir seinen Anfang, seine Mitte und seinen Ausklang beobachten. Es ist also kein Wunder, dass viele Meditationspraktiken aus aller Welt den Atem in den Mittelpunkt der Übung und Achtsamkeit stellen. Er ist immer da. Er enthält alles Wesentliche. Er verbindet Körper und Geist.

„Im bewussten Umgang mit dem Atem sieht der Taoist nicht nur eine wirksame Methode, Energien aus der äußeren Welt in sich aufzunehmen, sondern auch die energetischen Wege unserer inneren Welt zu ordnen und damit Körper, Geist und Seele in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen.“

„Volles Aus- und Einatmen ist also vor allem dann möglich, wenn man sich innerlich frei genug fühlt, Bekanntes loszulassen und Unbekanntes bereitwillig anzunehmen. Beim vollständigen Ausatmen leeren wir uns gleichsam aus und befreien uns nicht nur von Kohlendioxid, sondern auch von überflüssiger Anspannung, abgenutzten Vorstellungen und Empfindungen. Und voll einatmen heißt, sich zu erneuern; wir nehmen frischen Sauerstoff auf, aber auch neue Eindrücke von allen Dingen und Geschehnissen in uns selbst und unserem Umfeld.“

– Dennis Lewis, „Das Tao des Atmens“

Gedanken und Gefühle

Das Kommen und Gehen können wir auch bei unseren Gedanken, unseren Gefühlen und unseren körperlichen Sinneseindrücken beobachten. Es ist ein bisschen absurd, denn unser Geist neigt zum Verallgemeinern, er sucht immer nach Sicherheit und Erklärungen im Chaos und klammert sich im Fluss der Veränderungen an jedes größere Stück Holz, das oben schwimmt, im guten Glauben, es wäre schon immer da gewesen und würde auch immer da sein. Vielleicht ist auch das ein Grund für den ungestillten Wissen- und Erkenntnisdurst der Menschheit. Sie sucht nach Gesetzmäßigkeiten im ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens.

Beim Beobachten der Gedanken und Gefühle kommt dann noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Vielleicht können wir den Körper noch als etwas Äußeres betrachten, das der Veränderung unterworfen ist. Aber bei den Gedanken und Gefühlen fällt uns das schwer, weil es unsere Gedanken und unsere Gefühle sind. Es ist diese unbezweifelbare Tatsache des Denkens, die der französische Philosoph Réne Descartes in die Worte „Cogito ergo sum“ gefasst hat: Ich denke, also bin ich. Wir identifizieren uns mit den Gedanken und wir identifizieren uns mit dem Prozess des Denkens selbst. Das macht es schwierig, den fortwährenden Wandel in unseren Gedanken und Gefühlen ganz klar zu erkennen. Das macht es schwierig, zu sehen, dass unsere Gedanken ein Eigenleben besitzen, dass sie kommen und gehen, wie sie wollen und, dass wir ihnen ein Stück weit ausgeliefert sind. Das ist nichts Spirituelles oder Übernatürliches, in der modernen Psychologie wird dieses Phänomen als „das Unbewusste“ bezeichnet.

„Das Ich ist nicht der unumschränkte Herrscher in seinem eigenen Heim.“

– Sigmund Freud

Die Veränderungen in unserem Denken wirken kohärent und die Kohärenz vermittelte die Illusion einer Einheit. Dass diese Einheit nicht existiert, können wir leicht erkennen, indem wir unsere Tagebücher aus der Kindheit oder Jugend zur Hand nehmen. Dann kommen wir – auch wenn es schwer ist, sich das einzugestehen – eher zu der Erkenntnis, dass der rote Faden, den wir „Ich“ nennen, nicht immer so rot war. Bildlich gesprochen. Von diesem Ich vor zwanzig Jahren ist nicht viel übrig geblieben. Oder doch? Was ist es, was das kindliche Ich und das erwachsene Ich miteinander gemeinsam haben? Klar, das eine bedingt das andere, aber das bedeutet auch, das eine musste vergehen, um dem anderen Platz zu machen.

Wie nächtliche Schatten

Wer meditiert, weiß, wie flüchtig die Gedankenwelt ist. Er beobachtet das Kommen und Gehen der Gedanken. Er beobachtet es wie Wolken am Himmel, die langsam vorübergleiten. Er beobachtet es wie Vögel, die sich auf dem Baum vor dem Haus niederlassen, hier und da ein bisschen picken, sich umschauen und dann weiterfliegen.

Ich finde hier eine Zeile aus dem deutschen Volkslied „Die Gedanken sind frei“ sehr treffend:

„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.“

– Volkslied, „Die Gedanken sind frei“

In einer Rede von Buddha heißt es deshalb auch:

„Es ist besser, ihr Bhikkhus, wenn ein ununterrichteter gewöhnlicher Mensch diesen Körper, der aus den vier groben Elementen gebildet ist, als sein Selbst annimmt, nicht aber das Denken. Warum das? Man sieht, ihr Bhikkhus, wie dieser Körper, der aus den vier groben Elementen gebildet ist, ein Jahr, zwei Jahre, … fünfzig Jahre, wie er ein Jahrhundert besteht, wie er noch länger besteht. Was aber da, ihr Bhikkhus, Denken heißt und Geist und Bewusstsein: dieses andauernd in jedem Moment, Tag und Nacht, entsteht und vergeht.“

– Buddha (Siddhattha Gotama), in „Samyutta Nikâya”, XII, 61, 6/7

Das Vergängliche in uns

Ebenso wie wir die äußere, die physische Welt durchmustert haben, auf der Suche nach etwas Unvergänglichem und Unveränderlichem, ebenso sollten wir die innere, die geistige Welt untersuchen, ob es hier etwas Unvergängliches und Unveränderliches gibt.

Als Anregung dazu möchte ich diesen Auszug aus einem Vortrag von Ayya Khema empfehlen:

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FOTO: macro panorama water drop 25 von Steve Wall, lizensiert unter CC BY-NC-SA 2.0