Die Schönheit der Vergänglichkeit

Es gibt auf Spiegel Online eine Fotoserie, die „Vergessene Orte“ heißt. Es sind ehemalige Erholungsorte, Freizeitparks, Berkwerkanlagen oder Gefängnisse, die vor Jahren aufgegeben wurden und die, ohne menschliche Instandhaltung, langsam verfallen. Es ist vielleicht etwas morbid, aber ich schaue mir diese Bilder gern an. Sie  faszinieren mich auf besondere Art. Vielleicht, weil der „Zahn der Zeit“ hier besonders sichtbar wird. Sonst verhindern Denkmalschutz und das historische Bewusstsein, dass alte Gebäude dem natürlichen Verfall überlassen werden und wir geistern durch mittelalterliche Städte wie durch einen schönen, gut gepflegten Freizeitpark. Dabei finde ich gerade diese sichtbare Vergänglichkeit – den bröckelnden Putz, die rostenden Eisenträger, die eingestürzten Dächer, die staubbedeckten Flure, die bemoosten Mauern, das morsche Holz, die ausgebleichten Stoffe – auf ihre Weise schön.

Es steckt eine gewisse Ironie darin: Einige der schönsten und größten architektonischen Meisterleistungen der Menschheit wurden den ewigen, unsterblichen Göttern gewidmet: Die Akropolis in Athen, das Pantheon in Rom, die Pyramiden von Gizeh, der Tempelberg in Jerusalem, die großen Kirchen, Synagogen und Moscheen des Mittelalters. Es sind Trutzburgen gegen den Tod, Sehnsuchtstempel nach dem Jenseits, manifestierte Allegorien für das Unvergängliche. Wie viel Kraft und Schweiß und Blut haben Generationen von Menschen in diese Bauwerke gesteckt, in diese  immer wiederkehrende Rebellion des Geistes gegen das unerbittliche Ende. Und an allen nagt der Zahn der Zeit. Von den sieben Weltwundern der Antike sind nur noch die Pyramiden von Gizeh erhalten. Der Kölner Dom ist eine niemals enden wollende Baustelle. Das Gestein bröckelt und rieselt den Bauherrn förmlich durch die Hände, während sie noch daran arbeiten. Es ist ein bisschen so, als würde eine unsichtbare Hand unaufhörlich an dem Bilderverbot arbeiten, das Gott Mose einst gegeben hat:

„Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“

– Die Bibel, 2. Mose,  Kapitel 20, Vers 1-5

Wir bauen diese aberwitzigen Paläste und wir erhalten sie über Jahrhunderte. Es ist wie eine kollektive Psychose, denn wir sehen dadurch nicht, was wirklich vor sich geht. Wir sehen nicht das ewige Werden und Vergehen, den Kreislauf des Lebens, den unausweichlichen Tod.

Wir haben Angst. Deswegen bleibt uns auch die Schönheit der Vergänglichkeit verborgen, ihre Konsequenzen, ihre notwendigen Begleiter.

„Wir begreifen die Ruinen nicht eher, als bis wir selbst Ruinen sind.“

– Heinrich Heine

Immer neu

Kein Augenblick gleicht einem anderen.

Astrologen suchen in wiederkehrenden Stern- und Planetenkonstellationen eine Vorhersage der Zukunft. Aber de facto gibt es keine wiederkehrenden Sternkonstellationen. Die Erde dreht sich mit 30 km/s um die Sonne. Die Sonne dreht sich mit 220 km/s um das Zentrum der Milchstraße. Die Milchstraße bewegt sich zusammen mit anderen Galaxien der Lokalen Gruppe auf den Virgo-Haufen zu. Dieser wird wiederum vom Großen Attraktor angezogen. Die Geschwindigkeit der Lokalen Gruppe summiert sich auf etwa 600 km/s. Der Himmel ist immer neu.


Die Kontinentalplatten treiben träge auf dem flüssigen Erdmantel wie Schollen. Meteoriten schlagen auf der Erdoberfläche ein und hinterlassen kilometergroße Krater. Berge falten sich auf, die einst Meeresböden waren und legen Fossilien frei, die vor Abermillionen Jahren lebendig umher schwammen oder liefen. Gletscher schieben sich über das Land und ziehen sich wieder zurück. Flüsse graben sich tief in Täler ein und spülen Höhlen aus. Pflanzen gedeihen, sterben, versumpfen, verlanden und werden unter dem ungeheuren Gewicht der Erde zu Kohle, Öl, Bernstein und Diamanten gepresst. Schnee fällt, Regen fällt und das Wasser schwemmt die Erde davon. Sonne trocknet den Boden aus und verwandelt grüne Landschaften in Wüsten. Die Erde ist immer neu.

Bei anderen Dingen ist die Veränderung noch sichtbarer für uns: Das Leben auf der Erde ist immer neu. Die Jahreszeiten sind immer neu. Das Wetter ist immer neu. Die Bewegung des Wassers in den Meeren und Flüssen ist immer neu. Ja, es gibt Regelmäßigkeiten, es gibt wiederkehrende Situationen, aber genauer betrachtet, ist jeder Augenblick in der Geschichte einzigartig.

„Alles was du siehst, wird die Natur bald verwandeln und aus diesem Stoff andere Dinge schaffen und aus deren Stoff wiederum andere, damit die Welt immer verjüngt werde.“

– Marc Aurel

Unser Leben von unserer Geburt bis zum heutigen Tag ist immer neu. Kein Tag ist wie der andere. Kein Augenblick ist wie der vorangegangene. Auch, wenn wir das nicht wahrnehmen oder nicht wahr haben wollen. Wir verändern uns fortwährend. Unser Umfeld verändert sich ebenso. Unser Geist entwickelt sich. Unsere Werte wandeln sich. Unser Körper altert.

Ich bin zwei Jahre zwischen meinem Wohnort und dem Ort, wo ich studierte, mit dem Zug gependelt. An einem Streckenabschnitt fuhr der Regionalzug über eine Brücke und einen Fluss. Für mich war das immer ein besonderer Moment und mir fiel bald auf, dass diese Landschaft immer (ein wenig) anders aussah. Mal grasten Kühe auf einer Weide; mal sah man Pferde oder Spaziergänger am Fluss entlanggehen. Mal war es noch dunkel, mal war es hell. Mal zogen Wolken über das Land, mal regnete es, mal lag Schnee. Mal sah der Fluss metallisch-grau aus, mal braun und stumpf, mal blau und leicht. Mal wuchs Getreide auf der einen Seite des Flusses, mal lag das Feld brach oder lag abgemäht dar. Mal blühten die Bäume in der Ferne, mal hatten sie grüne Blätter, mal waren die Blätter gelb-rot, dann wieder kahl. Allein der Himmel über dieser Landschaft und das Licht waren jeden Tag anders. Ein Fotograf hätte 500 Bilder an dieser Stelle machen können, immer zum gleichen Zeitpunkt aufgenommen, und sie wären alle unterschiedlich gewesen. Immer neu.

Einzigartig

Kein Augenblick ist bedeutungslos.

Wir sammeln gern materielle Dinge, die rar und einzigartig sind: seltene Edelsteine, wertvolle Oldtimer, schöne Antiquitäten, kostbare Kunstwerke, limitierte Editionen und Einzelstücke. Dabei ist die Welt voll von einzigartigen Dingen, individuellen Lebewesen und nicht wiederkehrenden Momenten. Nur diese können wir nicht festhalten, nicht in einen Safe oder eine Vitrine stellen.

Die millimetergenaue Reproduktion von am Fließband hergestellten Massenprodukten ist das unnatürliche. Die Natur strebt immer nach Vielfalt und Einzigartigkeit. Die DNS setzt sich zwar aus lediglich vier Basen zusammen, aber schauen wir uns die unendliche Vielfalt der Lebensformen an, die daraus hervorgeht. Das ist eine atemberaubende Komplexität.

Führen wir uns das ganz klar vor Augen: Wir sagen zwar Baum oder Buche oder Rotbuche. Aber wir fassen mit diesen Begriffen immer nur die Gemeinsamkeiten zusammen. Kein Baum gleicht dem anderen. Keine Buche gleicht der anderen. Keine Rotbuche gleicht der anderen. Kein Blatt an einem Baum gleicht einem anderen. Wir werden immer Abweichungen im Wuchs der Äste und Zweige feststellen, individuelle Wurzelsysteme vorfinden oder feine Unterschiede bei der Äderung der Blätter usw. Jeder Baum ist ein einzigartiges Lebewesen. Gleiches gilt für die meisten Pflanzen, Tiere und auch Menschen. Denken wir nur an den individuellen Fingerabdruck jedes Menschen.

Ich glaube, es würde den menschlichen Geist hoffnungslos überfordern, die Welt wirklich so zu sehen wie sie ist: den unaufhörlichen Wandel, die feinen Abstufungen und Verzweigungen, die Vielschichtigkeiten des Lebens und die einzigartigen Begebenheiten. Das ist auch nicht seine Aufgabe. Er ist ein Alltags-Organisierer, ein Nutzen-Optimierer und Überlebens-Manager. Er reduziert die Wirklichkeit auf das, was für das Überleben und Wohlbefinden relevant ist. Er kann Einzelteile herausgreifen, ähnliche Dinge in die gleiche Schublade einsortieren, bestimmte Muster in Wiederholungen erkennen, zwischen Alternativen entscheiden und blitzschnell auf Autopilot umstellen, wenn Gefahr droht.

„Dem menschlichen Verstand ist die absolute Stetigkeit einer Bewegung unbegreiflich. Begreiflich werden dem Menschen die Gesetze irgendeiner Bewegung nur dann, wenn er willkürlich herausgegriffene Einzelteile dieser Bewegung betrachtet. Aber gerade aus dieser willkürlichen Teilung der stetigen Bewegung in unterbrochene Einzelteile entspringt der größte Teil der menschlichen Irrtümer.“

–  Lew Tolstoi, „Krieg und Frieden“, Elfter Teil, 1. Kapitel

Ich glaube, man muss kein Astronaut sein und muss nicht vom Weltall auf den blauen Planeten hinabschauen, um zu spüren, wie vergänglich und zugleich kostbar das Leben ist. Dieses einzigartige Dasein, dessen wir Zeuge werden, diese wundersame Vielfalt: sie sind spürbar, wenn der Geist zur Ruhe kommt. Wenn wir für einen Moment die begrifflichen Kategorien und allgemeingültigen Vorstellungen, wie die Welt wirklich ist, beiseitelassen. Es ist dieses Staunen eines Kindes, das die Welt mit neugierigen und unschuldigen Augen erblickt, diese schöne und rätselhafte Welt, die sich immerzu verwandelt.

Verbunden

Kein Augenblick ist bedingungslos.

Ich stelle mir gern vor, welchen Weg ein Sauerstoffatom zurückgelegt haben mag, um in meiner Lunge zu landen. Am Anfang des Universums gab es nur Wasserstoff und Helium, also muss das Sauerstoffatom in irgendeinem Stern durch Fusionsprozesse und Nukleosynthese entstanden sein. Dort müssen unvorstellbare Temperaturen und Druckverhältnisse geherrscht haben. Dieser Stern, der vor Jahrmilliarden geleuchtet hat, war irgendwann ausgebrannt und brach unter dem Gravitationsdruck in sich zusammen. Vielleicht hat er sich sogar in eine Supernova verwandelt und das Sauerstoffatom wurde mit unglaublicher Energie in die Weiten des Alls geschossen.

Da trieb es Millionen Jahre lang. Dann wurde es von einer schweren Masse – einer neu entstandenen Galaxie oder dem Gravitationsfeld eines schwarzen Lochs – angezogen und eingefangen. Gase sammelten und verdichteten sich und das Sauerstoffatom reagierte und verband sich mit anderen Atomen. So bildete sich vielleicht ein Wassermolekül. Die Gaswolke verdichtete sich, eine Aggregationsscheibe entstand, ein neuer Stern und Planeten formten sich. Das Sauerstoffatom, inzwischen tiefgefroren als Eis im Kern eines Meteoriten, kreiste wieder Millionen Jahre durch das Sonnensystem. Aber eines Tages kreuzte der Meteor die Bahn des dritten Planeten dieses Sonnensystems. Das Eis schmolz bereits in der Atmosphäre und verflüchtigte sich, während der Meteor auf die Erde stürzte. Das Wassermolekül wurde verdampft.

In der Atmosphäre kühlte es sich ab, verband sich mit anderen Molekülen und regnete zu Boden. Es versickerte in tiefere Erdschichten und quellte irgendwo nach Jahrzehnten wieder hervor. Das Rinnsal verband sich zu einem Bach, der Bach speiste einen Fluss, der Fluss einen Strom und der Strom wurde immer breiter und mündete schließlich im Meer. Dort trieb es wiederum Jahrhunderte, bis es zur Oberfläche getrieben wurde. Dort wurde es von der Sonne erwärmt und in Gas verwandelt. Wolken bildeten sich. Es regnete nieder und so weiter.

Bis eines Tages ein Baum oder eine andere Pflanze das Wassermolekül mit den Wurzeln aufnahm. Es wanderte durch das Gefäßsystem oder durch die Rinde mehrere Meter nach oben – bis zu einem Blatt. In einer von grünem Chlorophyll leuchtenden Zelle, angetrieben vom Licht der Sonne wurde es aufgespalten und als Sauerstoffmolekül an die umgebene Luft abgegeben. Dort raste es mit mehr als 300 m/s durch die Atmosphäre. Von Wind und Sonne angetrieben, prallte es gegen feste Materie und wurde in Stürmen ordentlich durcheinander gewirbelt. Bis eines Tages ein kleiner Unterdruck das Sauerstoffmolekül eingefangen hat. Ich hatte es eingeatmet.

Es wurde von den Lungenbläschen aufgenommen, an Blutzellen gebunden und raste durch meine Arterien bis zu einer Zelle. Es wanderte in die Zelle und wurde in einem der vielen Mitochondrien in Energie und schließlich wieder zu einem Wassermolekül umgewandelt. Der Kreislauf begann von neuem.

Das ist Kausalität und das ist vielleicht so etwas wie Karma. Stellen wir uns nur vor, wie viele Zustände, Formen und Metamorphosen dieses eine Sauerstoffatom durchlaufen und welchen Weg es durch Raum und Zeit zurückgelegt hat.

Diese physikalische Betrachtung mag jetzt etwas kompliziert erscheinen. Aber es ist ein einfacher Gedanke: wir sind alle mit der Welt um uns herum verbunden, materiell und energetisch. Ständig finden Stoffwechselprozesse und Umwandlungen von Materie in Energie und von Energie in Materie statt. Wir würden nichts sehen, wenn unsere Netzhaut nicht Photonen in elektrische Impulse und biomolekulare Prozesse umwandeln würde.

Thich Nhat Hanh hat dieses Netz der Verbindungen zwischen uns und der Welt sehr schön beschrieben:

„Eines Tages fühlte ich mich wie durch eine Nabelschnur mit der Sonne am Himmel verbunden. Ich erkannte deutlich: Wenn es die Sonne nicht gäbe, würde ich sofort sterben. Dann sah ich eine Nabelschnur, die mich mit dem Fluss verband. Ich wusste, wenn der Fluss nicht wäre, würde ich ebenfalls sterben, da ich kein Wasser zum Trinken hätte. Und ich sah eine Nabelschnur, die mich mit dem Wald verband. Seine Bäume erzeugten Sauerstoff, den ich atmete. Ohne den Wald würde ich sterben. Und ich sah eine Nabelschnur, die mich mit dem Bauern verband, der das Gemüse, den Weizen und den Reis anbaute, den ich koche und esse.“

– Thich Nhat Hanh, „Der furchtlose Buddha: Was uns durch die Angst trägt“

Wenn es keine Vergänglichkeit gäbe, gäbe es auch diese Dynamik nicht. Wenn die „zusammengesetzten Dinge“ nicht wieder vergehen könnten, wäre das Universum ein homogener, symmetrischer, gleichermaßen unbewegter und unbelebter Ort. Es würden keine Reaktionen stattfinden, nichts würde zerfallen und nichts würde entstehen.

Darum müssen wir vor der Vergänglichkeit auch keine Angst haben: wir verdanken ihr unser Dasein und sie verbindet uns mit allem, was ist. Ich finde, Christian Morgenstern hat das wunderbar auf den Punkt gebracht:

„Das Ich ist die Spitze eines Kegels, dessen Boden das All ist.“

– Christian Morgenstern

Leer

Kein Augenblick ist ewig.

Das ist ein schwieriger Gedanke, der für mich kaum zu fassen und zu verstehen ist. Ich versuche das einfach bestmöglich durch Zitate zu umreißen.

»Wie kann ich mich als Ganzes sehen«, fragte Kondana, »wenn alles, was ich als ›Ich‹ bezeichne, getrennt ist? Ich habe nur einen Körper und einen Geist: die, mit denen ich geboren wurde.«

»Sieh dir den Wald an«, antwortete Buddha. »Wir wandeln jeden Tag in ihm und meinen, es sei derselbe Wald. Dabei ist kein einziges Blatt so, wie es gestern war. Jedes Staubkorn im Boden, jede Pflanze und jedes Tier, alles ist in ständigem Wandel. Du kannst nicht als die einzelne Person erleuchtet sein, als die du dich siehst, weil diese Person schon verschwunden ist, so wie alles andere, was gestern war, verschwunden ist.«

– Deepak Chopra, „Buddha: Biographischer Roman“

Noch etwas prägnanter finden wir diesen Gedanken bei Thich Nhat Hanh:

„Als er das Blatt eingehend betrachtete, sah er ganz deutlich die Gegenwart der Sonne und der Sterne darin — ohne die Sonne, ohne Licht und Wärme könnte das Blatt nicht existieren. Dies ist, wie es ist, weil jenes ist, wie es ist. Auch sah er in dem Blatt die Gegenwart der Wolken — ohne Wolken gäbe es keinen Regen, und ohne Regen könnte das Blatt nicht sein. Er sah die Erde, die Zeit, den Raum, den Geist — alles war in diesem Blatt gegenwärtig. Tatsächlich existierte in diesem Moment das ganze Universum in diesem Blatt. Die Wirklichkeit des Blattes war ein außerordentliches Wunder.

Normalerweise denken wir, daß ein Blatt im Frühling geboren wird, doch Gautama sah, daß es schon seit langer, langer Zeit da war — in dem Sonnenlicht, den Wolken, dem Baum und in ihm selbst. Da er sah, daß das Blatt niemals geboren worden war, konnte er auch erkennen, daß auch er niemals geboren worden war. Das Blatt — wie er selbst — hatte sich nur manifestiert — es war niemals geboren worden noch würde es jemals sterben. Durch diese Einsicht lösten sich seine Vorstellungen von Geburt und Tod, Erscheinen und Vergehen auf, und das wahre Gesicht des Blattes — und sein eigenes wahres Gesicht — enthüllten sich. Und er erkannte, daß die Gegenwart jeder einzelnen Erscheinung das Dasein aller anderen Erscheinungen möglich machte. Ein Phänomen umfaßte alle, und alle waren in einem enthalten.

Das Blatt und sein Körper waren eins. Keines von beiden besaß ein eigenständiges, unvergängliches Selbst. Beide konnten sie nicht unabhängig vom Rest des Universums existieren. Indem er die wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge als ihre Natur erkannte, sah Siddhartha auch die Leerheit aller Erscheinungen als die Natur der Dinge — alles ist leer von einem eigenständigen, vereinzelten Selbst. Er verstand, daß der Schlüssel zur Befreiung in diesen beiden Prinzipien lag — der wechselseitigen Abhängigkeit und dem Nicht-Selbst aller Dinge. Wolken trieben am Himmel … Auch Wolken waren nie geboren worden, und sie würden auch nicht sterben. Verstanden die Wolken das, so würden sie, dachte Gautama, sicher freudig singen, wenn sie als Regen auf die Berge, Wälder und Reisfelder herniederprasselten.

Siddhartha, der den Strom des Körpers, den der Empfindungen, Wahrnehmungen, der Geistesregungen und des Bewußtseins beleuchtete, verstand nun, daß Unbeständigkeit und Leerheit genau die Bedingungen sind, die das Leben möglich machen. Ohne Unbeständigkeit und Leerheit könnte nichts wachsen und sich entfalten. Ein Reiskorn, das nicht von seiner Natur her unbeständig und leer von Selbst wäre, könnte niemals zu einer Reispflanze heranwachsen. Wären Wolken nicht leer von Selbst, wären sie nicht unbeständig, so könnten sie sich nicht in Regen verwandeln. Ohne eine unbeständige, selbst-lose Natur könnte ein Kind niemals zum Erwachsenen heranreifen.

Daher, so dachte er, bedeutet das Leben annehmen auch Unbeständigkeit und Leerheit von Selbst annehmen. Der Ursprung des Leidens ist der falsche Glaube an Beständigkeit und an die Existenz eines eigenständigen, abgetrennten Selbst. Dies zu sehen, bedeutet zu verstehen, daß es weder Geburt noch Tod gibt, weder Entstehen noch Vergehen, weder eins noch viele, weder innen noch außen, weder groß noch klein, weder unrein noch rein. All diese Vorstellungen sind falsche Unterscheidungen, durch den Intellekt geschaffen. Taucht man in die Leerheit aller Dinge ein, wird man alle geistigen Schranken transzendieren und befreit sein vom Kreislauf des Leidens.“

– Thich Nhat Hanh, „Wie Siddhartha zum Buddha wurde“

Aber wir müssen nicht nur die asiatische Philosophie bemühen. Es gibt auch westliche Denker, die ein Gespür für das Grenzenlose und den ewigen Wandel entwickelt haben:

„Eins und alles

Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästigem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschauen das Geschaffne,
Damit sichs nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

– Johann Wolfgang von Goethe

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