Seinzeit

Vergänglichkeit zu erkennen und zu akzeptieren, wird unsere Wahrnehmung verändern. Wir werden empfänglicher für das Werden und Vergehen um uns herum – und in uns selbst. Dieser Prozess kann unterstützt werden durch Meditation, Yoga, Qi Gong oder jede andere regelmäßige Praxis, die zur Förderung der Achtsamkeit beiträgt.

Vergänglichkeit wahrnehmen

Wir werden erleben, dass alle Dinge im Fluss sind – nicht nur die materielle Welt, die wir zugrunde legen, sondern zuvorderst auch unsere Sinneseindrücke, unsere Gedanken und Gefühle. Wir werden vielleicht sogar die Schönheit der Vergänglichkeit erfahren und schätzen lernen.

„In steter Veränderung ist diese Welt. Wachstum und Verfall sind ihre wahre Natur. Die Dinge erscheinen und lösen sich wieder auf. Glücklich, wer sie friedvoll einfach nur betrachtet.“

– Buddha (Siddhattha Gotama)

Wahrnehmen heißt Loslassen: Unser Festhalten, unser Ablehnen, unsere Angst, unseren Ärger, unseren Selbstzweifel, unsere Vorstellungen, wie die Welt ist und wie man sie verbessern kann, unsere Ideale von uns selbst, wer wir sind und was wir glauben, noch erreichen zu müssen. Wir geistern nicht mehr unaufhörlich in der Vergangenheit und in unseren Erinnerungen herum. Wir lassen uns auch nicht von der Ungewissheit unserer Zukunft verunsichern.

Wahrnehmen heißt in den gegenwärtigen Augenblick zurückkehren, wach sein, da sein und die fundamentale Frage zu beantworten: Was ist jetzt?

Nicht vor-stellen, was ist. Nichts hineinlegen.

Wahr-nehmen, was ist.

Hier und Jetzt.

Vergänglichkeit transzendieren

Es ist nur eine Ahnung. Aber ich glaube: Die Rückkehr ins Jetzt transzendiert letztendlich die Vergänglichkeit. Dann gibt es kein Vergehen mehr, sondern nur noch ein Sein.

Wie das?

Stellen wir uns vor, dass es gar keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt. Jeder Physiker wird mich jetzt verprügeln wollen, denn Zeit und Raum sind alles, was er hat und woran er glaubt. Stellen wir uns vor, dass Vergangenheit und Zukunft nur zwei Konzepte in unserem Geist sind. Wir können uns an das erinnern, was gewesen ist. Wir können ein Foto oder ein Video von damals anschauen. Aber dieser vergangene Zustand hat sich längst aufgelöst. Er kann nicht nochmal erlebt werden. Er existiert nicht mehr. Alles, was davon geblieben ist, ist eine Vorstellung in unserem Geist oder ein paar Pixel auf einem Bildschirm. Ähnlich verhält es sich mit der Zukunft. Wir können planen, vorhersagen, erwarten, ersehnen, befürchten. Aber das sind alles nur mehr oder weniger erfolgreiche Spekulationen. Auch dies sind nur Vorstellungen.

Ich weiß, es ist nicht einfach, mir auf diesem Gedankengang zu folgen, deswegen muss ich mir ein wenig Hilfe bei einem großen Mystiker des Christentums holen:

„Weder Vergangenheit noch Zukunft gibt es, sondern es gibt eine Vergegenwärtigung der vergangenen Dinge, ferner eine Vergegenwärtigung der gegenwärtigen Dinge, schließlich eine Vergegenwärtigung der zukünftigen Dinge. Diese drei Zeitformen nehmen wir in unserem Geiste wahr, aber sonst nirgendwo.“

– Augustinus Aurelius

Richten wir nochmal die Aufmerksamkeit auf die unangenehmen Gefühle in uns. Womit sind sie verknüpft? Kann es sein, dass sie entweder mit der Vergangenheit verknüpft (z.B. Reue, Gewissensbisse, Liebeskummer, Trauer, Ärger) oder in die Zukunft verstrickt sind (z.B. Angst, Sorgen, Sehnsucht, Ungeduld, Einsamkeit)? Die meisten unserer Gedanken sind nicht auf den gegenwärtigen Augenblick gerichtet und die meisten unserer Gefühle sind nicht mit dem verbunden, was gerade vor sich geht. Die größten Energien verwenden wir darauf, uns das vorzustellen, was nicht mehr ist und das herbeizusehnen oder zu fürchten, was noch nicht ist. Genau das sind die Konzepte und Filter, mit denen wir das beurteilen, was jetzt passiert.

Ich bestreite nicht, dass unsere Erinnerungen und Erfahrungen wichtig sind. Denn sie definieren, was wir sind. Ich bestreite nicht, dass es wichtig ist, sein Handeln zu planen und Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Das alles ist nützlich. Die entscheidende Frage ist, ob diese Prozesse ausgewogen sind? Treibt unser Geist zu sehr in der Vergangenheit herum? Oder ist es der Schatten der Zukunft, der sich über unser Leben gelegt hat?

„Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen.“

– Aurelius Augustinus

Durch die Meditation können sich Vergangenheit und Zukunft auflösen. Ich betrachte eine Erinnerung. Ich betrachte das unangenehme Gefühl, das dabei aufkommt. Ich spüre die körperlichen Reaktionen auf das Gefühl. Ich benenne das unangenehme Gefühl als „Trauer“. Ich lasse es ziehen. Aber all das ist gegenwärtig und ich bin mir dieser Vergegenwärtigung bewusst. Ich bin mir bewusst, dass ich mich erinnere. Ich bin mir bewusst, dass die Erinnerung nur eine Erinnerung ist. Ich bin mir bewusst, dass das Ereignis vergangen ist. Ich bin mir bewusst, dass auch die Erinnerung langsam wieder verblasst.

Die Vergänglichkeit ist nur dann problematisch, wenn ich an etwas anhafte oder es ablehne. Denn das reißt mich aus meiner Achtsamkeit. Wenn ich das nicht tue, wird mein Geist ruhig und mein Herz wird frei. Ich kann gelassen auf die Wellen blicken, wie sie kommen und gehen. Die Wellen des Geistes. Die Wellen der Empfindungen. Die Wellen der Sinneseindrücke.

Letztlich frage ich mich, ob es überhaupt einen Unterschied zwischen Vergänglichkeit und Werden gibt? Bedingt das eine nicht das andere? Ist es nicht einfach eine grundlegende Eigenschaft der Zeit? Ohne Vergehen, ohne Werden gäbe es keine Zeit. Ein Zustand geht in einen anderen Zustand über, es ist ein beständiger Fluss der Veränderungen, ein kontinuierlicher Strom des Wandels. Das ist das Sein.

„Verstehe Zeit nicht bloß als vergehend; denke nicht, Vergehen sei die einzige Funktion von Zeit. Falls Zeit bloß verginge, wären du und sie voneinander getrennt. Der Grund, dass du Seinzeit nicht klar verstehst, liegt darin, dass du Zeit als bloß vergehend verstehst. Im Wesenskern sind alle Dinge der ganzen Welt, indem sie einander benachbart sind, Zeit. Da diese Zeit Seinzeit ist, ist es deine Seinzeit. Seinzeit besitzt die Qualität des Strömens. Das sogenannte Heute strömt ins Morgen, Heute strömt ins Gestern, Gestern strömt ins Heute, Heute strömt ins Heute, Morgen strömt ins Morgen. Die Augenblicke von Vergangenheit und Gegenwart stapeln sich nicht übereinander, sie fügen sich nicht in einer Reihe aneinander.“

– Dogen Zenji

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