Die Rebellion des Geistes

Es gibt verschiedene Strategien, wie wir mit der Vergänglichkeit umgehen bzw. nicht umgehen. Der menschliche Geist rebelliert gegen das, was er nicht kontrollieren kann, gegen den unaufhaltsamen Wandel, gegen das unausweichliche Ende seiner eigenen Existenz.

Schauen wir uns ein paar Strategien der Rebellion des Geistes gegen die Vergänglichkeit an.

Perfektionismus

Wir streben oftmals ein Ideal an. Insgeheim spüren wir, dass die Welt nicht vollkommen ist und sich ständig verändert. Aber zumindest in einem Lebensbereich setzen wir alle Kräfte ein, um ein vollkommenes Ideal zu erreichen.

  • Wir wissen zwar, dass unser Körper nicht perfekt ist. Er hat Makel, er wird von Krankheiten befallen, er altert. Aber schauen wir uns die Bilder in der Vogue oder in anderen Modemagazinen an, dann sehen wir ein Ideal: schön, gesund, dünn. Oder in einem Fitnessmagazin: stark, vital, durchtrainiert. Also gehen wir drei bis sechsmal pro Woche ins Fitnessstudio, wir joggen, wir halten Diät. Wir kaufen Cremes und Hautpflegeprodukte. Wir versuchen uns gesünder zu ernähren. Wir kaufen tausend nutzlose Dinge und Accessoires, weil die perfekten Menschen in den perfekten Magazinen sie haben.
  • Wir wissen zwar, dass es das perfekte Zuhause nicht gibt. Aber wir planen, wir bauen, wir renovieren, wir richten uns ein wie die Weltmeister. Mir kommt das manchmal wie kleine Schachteln unseres Egos vor, wie manifestierte Erweiterungen unseres Ichs. Ein Autor hat das mal das „symbolische Ich“ genannt. Es sind abgrenzbare Räume, die uns gehören, kleine Komfortzonen, die wir unaufhörlich perfektionieren. Das kann das eigene Heim sein, der eigene Garten, das eigene Auto oder die eigene Webseite sein. Jeder von uns hat so eine Schachtel, die ihm wichtig ist und an der er ständig herumbastelt.
  • Es gibt aber auch Tätigkeiten, auf die sich dieser Perfektionismus übertragen kann. Übertriebene Ordnungsliebe, zwanghafter Reinigungsfimmel, ruhelose Selbstdarstellung, rastlose Karrieren oder  ehrgeizige Hobbies sind Beispiele dafür. Es ist Zeitgeist, dass wir unzufrieden mit uns selbst sind und den Wunsch verspüren, uns ständig selbst zu optimieren. Persönlichkeitsentwicklung, Weiterbildung, Coaching, Selbstverwirklichung, Fitness Tracking sind einige Stichworte, an die ich hier denke. Da der perfekte Zustand nie erreicht werden kann und Erfolgsmomente nur von kurzer Dauer sind, dreht sich das Hamsterrad immer weiter.
  • Ein einfacher Perfektionismus ist der Konsum von neuen Dingen. Und dabei denke ich nicht nur an Kleidung, Mode und Accessoires. Ich denke auch an Elektronik, an Möbel, an Autos, an Spielzeug und andere Dinge, die uns glücklich machen. Die Konsumwelt verspricht uns immer eine Welt des perfekten und unkomplizierten Glücks. Aber, wenn die neue Couch den ersten Fleck hat, wenn das neue Smartphone gestohlen wurde, wenn der neue BMW vor der Tür den ersten Kratzer hat, kollabiert die Illusion vom perfekten Glück.

Wissenschaft und Technik

In gewisser Hinsicht sind Wissenschaft und Technik auch eine Rebellion gegen die Vergänglichkeit.

Denken wir nur an die Erfindung des rostfreien Stahls. Jahrhunderte lang war Eisen durch Kontakt mit Wasser und Luft dem schnellen Verfall preisgegeben. Bis es zu Innovationen kam, die langlebige und beständige Legierungen hervorbrachten. Gleiches gilt etwa für die Erfindung von Plastik, das ebenfalls ein robustes und beständiges Material ist.

Die Medizin strebt unaufhörlich nach der Verlängerung des menschlichen Lebens. Das ist natürlich auch ein Ideal. Aber mithilfe der Gentechnik wird es eines Tages vielleicht sogar möglich sein, den Prozess des Alterns der Zellen zu verstehen und ggf. zu verlangsamen.

Es ist erstaunlich, wie Technik immer wieder die Grenzen dessen, was wir uns vorstellen können, verschoben hat. Die Romane von Jules Verne waren mal pure Science Fiction, aber Unterseeboote, Reisen zum Mond und die Erfindung des Verderbens (Atombombe) sind inzwischen Wirklichkeit geworden.

Aber auch Technik hat Grenzen. Der Tod bleibt unbesiegt. Hunger und Leid sind weiterhin in der Welt. Der Klimawandel schreitet ungebremst voran. Und die besten Sicherheitssysteme der Welt können nicht den Super-GAU verhindern (denken wir an Tschernobyl oder Fukushima).

Aber Wissen und Erkenntnis können auch Selbstzweck sein – jenseits von technischem Nutzen und wirtschaftlichen Interessen. Der Wissensdurst der Menschheit ist nicht zu unterschätzen. In Europa und Nordamerika geben wir für Grundlagenforschung wie am Large Hadron Collider (LHC) oder für den Bau von neuen Radioteleskopen Milliardensummen aus. Es hat einen hohen Wert für uns, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir wollen wissen, was die kleinsten Teilchen sind, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt. Wir wollen wissen, wie das Universum entstanden ist und wie es sich entwickeln wird.

Aber, wozu wollen wir das wissen?

Vielleicht suchen wir in diesem Wissen auch eine Antwort auf Fragen, die wir uns sonst nicht stellen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wissensdurst kann der Wunsch sein, im unaufhörlichen Wandel der Welt eine verlässliche Ordnung zu finden. Auch hier sind wir nicht einfach auf der Suche nach einer Antwort, sondern die Antwort muss auch befriedigend sein. Eine mathematische Formel, die die Welt beschreibt, muss nicht nur konsistent, sondern auch schön sein.

„Theoretical physicists accept the need for mathematical beauty as an act of faith… For example, the main reason why the theory of relativity is so universally accepted is its mathematical beauty.“

– Paul A. M. Dirac, „Methods in Theoretical Physics“

Letztendlich wohnt allen Theorien der Wunsch nach Allgemeingültigkeit inne. Die Theorie soll immer und überall gelten. Sie soll das, was passiert und bisher schleierhaft erschien, zuverlässig vorhersagen. Damit aber wird die Theorie selbst zu etwas, das ewig und unveränderlich erscheint.

„Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen.“

– Albert Einstein

Doch wir vergessen dabei, dass die gesamte Wissenschaftsgeschichte eine Reihe von Widerlegungen, Berichtigungen und Verfeinerungen ist. Wir vergessen dabei, dass jede Theorie auf mathematischen Axiomen und anderen Prämissen aufbaut. Wir vergessen dabei, dass einige der modernen physikalischen Theorien wie die Stringtheorie oder die Schleifenquantengravitation sich der Beobachtung und Falsifizierbarkeit entziehen und damit sehr nah an das heranrücken, was wir Metaphysik nennen. Wir vergessen, dass all unser Wissen uns nicht vor dem Tod bewahrt.

„Es ist verhängnisvoll, dem Leben mit der Last der Gewissheit zu begegnen, mit dem Stolz des Wissens, denn schließlich ist Wissen nur etwas Vergangenes.“

– Jiddu Krishnamurti

Glaube

Was treibt den Glauben an? Warum sind die religiösen Mythen so erfolgreich, dass ihnen Milliarden Menschen bereitwillig folgen?

„Das entscheidend Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit. In diesem Sinn haben Jahrhunderte nichts vor dem augenblicklichen Augenblick voraus. Die Kontinuität der Vergänglichkeit kann also keinen Trost geben; daß neues Leben aus den Ruinen blüht, beweist weniger die Ausdauer des Lebens als des Todes. Will ich nun diese Welt bekämpfen, muß ich sie in ihrem entscheidend Charakteristischen bekämpfen, also in ihrer Vergänglichkeit. Kann ich das in diesem Leben, und zwar wirklich, nicht nur durch Hoffnung und Glauben?“

– Franz Kafka, „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß“

Es haben sich im Laufe der Geschichte in verschiedenen Kulturen zum Teil sogar unabhängig voneinander Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod entwickelt. Denken wir beispielsweise an den Hades in der griechischen Mythologie, an den Totenkult der Pharaonen, an Himmel und Hölle in der christlichen Religion oder an die vielfältigen Jenseits-Vorstellungen der nordamerikanischen Ureinwohner.

Auch die Vorstellung einer unsterblichen Seele als Gegensatz zum vergänglichen Körper ist in vielen Kulturkreisen nachweisbar. Besonders beeindruckend finde ich die Feierlichkeit und Entschiedenheit in der Bhagavad Gita, mit welcher dort der Leib-Seele-Dualismus dargestellt wird:

„Es gibt kein Werden aus dem Nichts, noch wird zu Nichts das Seiende!
Die Grenze beider ist erschaut von denen, die die Wahrheit schaun.

Doch wisse, unvergänglich ist die Macht, durch die das All gewirkt!
Des Ewigen Vernichtung kann bewirken niemand, wer’s auch sei.

Vergänglich sind die Leiber nur, – in ihnen weilt der ew’ge Geist,
Der unvergänglich, unbegrenzt – drum kämpfe nur, du Bhârata!

Wer denkt, es töte je der Geist oder werde getötet je,
Der denkt nicht recht! Er tötet nicht, noch wird jemals getötet er.

Niemals wird er geboren, niemals stirbt er,
Nicht ist geworden er, noch wird er werden,
Der Ungeborne, Ewige, Alte – nimmer
Wird er getötet, wenn den Leib man tötet.

Wer ihn als unvernichtbar kennt, als ewig und unwandelbar,
Wie kann ein solcher töten je, wie töten lassen, Prithâ-Sohn?

Gleichwie ein Mann die altgewordnen Kleider
Ablegt und andre, neue Kleider anlegt,
So auch ablegend seine alten Leiber
Geht ein der Geist in immer andre, neue.

Es schneiden ihn die Waffen nicht, es brennet ihn das Feuer nicht,
Es nässet ihn das Wasser nicht, es dörret ihn auch nicht der Wind.

Zu schneiden nicht, zu brennen nicht, zu nässen nicht, zu dörren nicht,
Er ist beständig, überall, fest, ewig, unerschütterlich.

Unsichtbar und unvorstellbar und unveränderlich heißt er,
Darum, sobald du ihn erkannt, darfst du nicht mehr beklagen ihn.

Und wenn für stets geboren auch, für stets gestorben du ihn hältst,
Doch darfst du, Held mit starkem Arm, um diesen trauern nimmermehr.

Denn dem Gebornen ist der Tod, dem Toten die Geburt bestimmt, –
Da unvermeidlich dies Geschick, darfst nicht darüber trauern du.

Unsichtbar sind die Anfänge der Wesen und ihr Ende auch,
Die Mitte nur ist sichtbar uns – was gibt’s für Grund zur Klage da?

Der Eine schauet ihn als wie ein Wunder,
Der Andre spricht von ihm als einem Wunder,
Der Dritte hört von ihm als einem Wunder,
Doch hört er’s auch, es kennet ihn doch keiner.

Die Seele unverletzbar ist, ewig, in eines jeden Leib,
Darum die Wesen allesamt darfst du betrauern nimmermehr.“

– Bhagavad-Gîtâ, Sânkhya-Yoga, Kapitel 2, Vers 16-30

Der Glaube ist wahrscheinlich sogar die hartnäckigste Rebellion des menschlichen Geistes gegen die Vergänglichkeit. Die Zeitalter der Reformation, Aufklärung, Säkularisierung, Neuzeit, Moderne und Postmoderne haben daran keineswegs etwas geändert. Der weltliche Einfluss der Kirche und das Ausmaß der sozialen Kontrolle wurden eingeschränkt, aber die Wurzel aller Religionen fußt schrankenlos im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit.

Der Geist kann das eigene Ende, die Begrenzung des Lebens, den Verfall und Tod des Körpers nicht hinnehmen. Das ist der Nährboden für unsere Hoffnungen, für unsere metaphysischen Spekulationen und für die verblüffende Leichtgläubigkeit, mit der wir den Versprechen glauben, dass es nach dem Tode weiter geht. Denn, obgleich diese Versprechen der Weltreligionen unterschiedliche Namen tragen („ewige Seele“, „Unsterblichkeit“, „Wiedergeburt“, „Totenreich“, „Hades“, „Himmelreich“, „Amata“ usw.), wurzeln sie doch in dem gleichen Wunsch. Es sind ähnliche Antworten auf ein und dieselbe Frage.

Christian Morgenstern hat das sehr schön auf den Punkt gebracht:

„Was ist Religion? Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.“

– Christian Morgenstern

Kreativität

Kreativ sein und den Augenblick vergessen. Etwas schaffen, das vielleicht über das eigene Leben hinaus weist. Das war immer meine erste Wahl gegen die Vergänglichkeit zu rebellieren und vor allem gegen das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. Schreiben. Malen. Komponieren. Den eigenen Tod ein wenig austricksen. Ein bisschen länger in Erinnerung bleiben.

Es ist eine Illusion, ein Selbstbetrug. Und ich weiß das auch.

„Selbst Himmel und Erde können nichts Dauerndes schaffen, um wie viel weniger der Mensch.“

– Laotse

Im zweiten Teil von Goethes Faust spricht Mephisto folgendes:

„Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!
Was soll uns denn das ew’ge Schaffen!
Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!
»Da ist’s vorbei!« Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.“

– Johann Wolfgang von Goethe, „Faust II“

Kinder

Alle unsere Hoffnungen ruhen auf unseren Kindern, auf der nächsten Generation. Sie werden sein, wenn wir nicht mehr sind. Sie werden tun können, was wir nicht getan haben. Sie werden die Zukunft sehen. Ein stückweit leben wir in ihnen und durch sie weiter.

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