Die einzige Konstante im Universum

Ich betrachte die Vergänglichkeit inzwischen als eine Art universelles Naturgesetz. Wenn wir genau hinschauen, dann ist sie überall erkennbar. An allem, was uns umgibt, und an allem, was in uns ist. Und desto genauer wir hinschauen, desto deutlicher wird diese Einsicht.

Durchmustern wir ein paar der modernen Wissenschaften unter diesem Aspekt.

Paläontologie

Eine ganze Wissenschaft beschäftigt sich mit dem, was nicht mehr ist. Sie beantwortet die Frage, woher wir kommen, wie das Leben entstanden ist und wie es sich weiterentwickelt hat. Aber die meisten Fossilien und Versteinerungen zeigen ausgestorbene Lebensformen: Die Dinosaurier, das Mammut, der Neandertaler usw. Wir können daraus lernen, dass nicht nur einzelne Individuen sterblich sind, sondern das ganze Arten und Gattungen von der Evolution „ausgemustert“ wurden. Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, denn im Vergleich zu den Erdzeitaltern ist die Menschheit noch vergleichsweise jung.

Geologie

Die Oberfläche der Erde hat sich fortwährend verändert. Für unsere alltägliche Wahrnehmung sind Berge wie die Zugspitze oder das Matterhorn seit Generationen da und werden auch immer da sein. Aber betrachtet man die Erdzeitalter, dann sieht man die ganze Kraft und Dynamik in den Erdmassen unter uns. Wir wissen, dass es mal einen riesigen, zusammenhängenden Superkontinent gab (Pangaea), bevor die heutigen Kontinentalplatten zerbrachen und auseinander drifteten. Wir wissen, dass sich der indische Subkontinent unter die eurasische Platte schiebt und so den Himalaya formte. Wir wissen, dass die afrikanische Platte „kurz davor“ ist, auseinanderzubrechen. Erdbeben wie in Kalifornien, in Nepal oder im indischen Ozean sind ein Zeichen, wie schnell und wie gewaltig diese Veränderungen sind.

Geschichte

Auch die Archäologen und Historiker werfen einen Blick in die Vergangenheit. Sie erforschen Kulturen, Staaten, Gesellschaften, die untergegangen sind: Die Pharaonen, das römische Reich, das Reich der Maya, die chinesischen Dynastien, die griechischen Stadtstaaten, die Kelten – diese Staaten entstanden, sie existierten, sie vergingen. Die ganze Geschichte der Menschheit handelt vom Aufstieg und Fall von Gesellschaften, von Kriegen und Grenzen, die sich immerfort verschoben. Wir sind so gewöhnt an unseren westlichen Lebensstandard, verwöhnt von Demokratie und Infrastruktur, beschützt von Recht und Ordnung, dass wir den fortwährenden Wandel aus den Augen verlieren. Dabei ist gerade die jüngere deutsche Geschichte ein Sinnbild für die Vergänglichkeit:

  • Der Staat, in dem meine Großeltern geboren wurden, existiert nicht mehr (Deutsches Kaiserreich).
  • Der Staat, in dem meine Eltern geboren wurden, existiert nicht mehr (Deutsches Reich).
  • Der Staat, in dem ich geboren wurde, existiert nicht mehr (DDR).

Quelle: Poorly Drawn Lines

Biologie

Es ist faszinierend, wie sich das Leben immer wieder an verändernde Lebensbedingungen anpasst. Als Darwin seine Evolutionsgesetze formulierte, führte er den Begriff der „natürlichen Selektion“ ein. Vielleicht kann man dies als „fortwährende Anpassung aufgrund von Vergänglichkeit“ deuten. Die Endlichkeit des einzelnen Lebens wird zur Grundvoraussetzung zum Überleben und zur fortwährenden Weiterentwicklung des Lebens. Wir sehen die Genetik heute als Fundament der biologischen Wissenschaft und wir betrachten die Gene als etwas „unvergängliches“. Die Bausteine des Lebens sind vermutlich 3 bis 4 Milliarden Jahre alt. Aber dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass dieses Leben an Bedingungen gekoppelt ist: Wasser, Energie, Temperaturen, Stoffwechselkomponenten. Wenn die Sonne sich eines Tages zu einem roten Gasriesen ausdehnt, dann wird auch das Leben auf der Erde verschwinden.

Medizin

Der Mensch wurde aus dem Paradies verbannt, weil er vom Baum der Erkenntnis genascht hat. Gott verbannt ihn, denn „Es darf nicht sein, dass er auch noch vom Baum des Lebens isst. Sonst wird er ewig leben!“ Mir kommt es manchmal so vor, als strebt die Menschheit mithilfe von Erkenntnis und Wissenschaft genau danach: dem ewigen Leben. Die medizinische Wissenschaft bekämpft die Krankheiten, lindert die Schmerzen und versucht mit allen Mitteln das menschliche Leben zu verlängern. Ich möchte gar nicht das Gute und Menschfreundliche hinter diesem Streben kritisieren, obwohl wir hierfür große Opfer erbringen (Stichwort: Tierversuche). Aber die materialistisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung betrachtet den Körper immer wie eine Maschine: er muss funktionieren. Erst, wenn er nicht mehr funktioniert, wenn Schmerzen ihn durchströmen, fangen wir an, ihm Aufmerksamkeit und Fürsorge zu schenken – und oftmals zu spät. Aber wir können die medizinische Wissenschaft auch mal etwas nüchterner und weniger zweckgebunden betrachten: dann sehen wir den menschlichen Körper, seine Vergänglichkeit, seine Verletzlichkeit, seine Anfälligkeit für Krankheiten. Wir werden geboren. Wir leben. Wir altern und leiden. Wir sterben. Die Wissenschaft mag uns glauben machen, dass das heilbar sei; die Pharmakonzerne mögen uns glauben machen, dass es nicht schmerzhaft sei; die Kosmetik mag uns glauben machen, dass wir ewig jung bleiben können.

Ich lese gerade „Krieg und Frieden“ von Tolstoi. An einer Stelle klagt Napoleon:

„Man spricht von Medizin, aber was hilft Medizin, wenn sie keinen Schnupfen heilen kann. Corvisard hat mir diese Pastillen gegeben, aber sie helfen nichts! Was können sie eigentlich heilen? Nichts. Unser Körper ist eine Maschine für das Leben, dafür ist er eingerichtet. Man muß das Leben in Ruhe lassen und es wird sich selbst verteidigen, besser, als wenn man es mit Arzneimitteln stört.“

–  Lew Tolstoi, „Krieg und Frieden“, Zehnter Teil, 29. Kapitel

Physik

Ich stelle mir gern vor, dass ich aus Sternenstaub bestehe. Mich würde es nicht geben, wenn es nicht vorher Sterne und Sternenexplosionen gegeben hätte. Denn die Elemente in meinem Körper wie Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Magnesium und Eisen sind erst durch Fusionsprozesse in Sternen entstanden oder durch Supernovae, also den spektakulären Tod massereicher Sterne. Wir schauen heutzutage mit Radioteleskopen tief in die Weiten des Weltraums, bis zu den Anfängen des Universums vor ca. 13,8 Milliarden Jahren. Die Astronomen haben inzwischen gute Erklärungsmodelle für vieles, was sie erblicken. Aber es gibt nichts, was ewig existiert. Die Planeten entstehen und vergehen. Die Sterne entstehen und vergehen. Galaxien können ausbrennen oder bei der Kollision mit einer anderen Galaxie verschlungen werden. Selbst schwarze Löcher können wieder zerstrahlen.

Vielleicht sind die Naturgesetze (die Relativitätstheorie, das Standardmodell der Elementarteilchen, die Quantenfeldtheorie) und die Naturkonstanten (Lichtgeschwindigkeit, Plancksches Wirkungsquantum, Kosmologische Konstante etc.) das einzige im Universum, was immer und überall gilt. Aber, warum sie konstant sind, wissen wir nicht. Sie beschreiben nur die Bedingungen und Grenzwerte (z.B. die größtmögliche Geschwindigkeit, der kleinstmögliche Wirkungsgrad, etc.) der beobachtbaren Veränderungen. Aber wir wissen, dass das Universum entstanden ist und zwar aus einem einzigen Punkt. Diese Singularität, deren wir unsere Existenz verdanken, wird auch als Urknall (engl. Big Bang) bezeichnet. Die Kräfte, die die Welt im Innersten zusammenhalten (Gravitation, Elektronmagnetische Wechselwirkung sowie die schwache und starke atomare Wechselwirkung) sind hierdurch entstanden. Nach einer ersten Abkühlungsphase bildeten sich  subatomaren Teilchen (Quarks). Diese gruppierten sich zu ersten Atomkernen und schließlich zu Wasserstoff- und Heliummolekülen. Diese wiederum lieferten den Treibstoff für die ersten Sterne und Galaxien.


Wie das Universum einmal enden wird, ist noch strittig. Dass es enden wird, nicht. Am wahrscheinlichsten gilt der Big Freeze bzw. Big Chill. Die Gravitation kann die zunehmende kosmische Expansion nicht aufhalten. Eine bis heute noch unbekannte Kraft (die Dunkle Energie) gewinnt zunehmend an Einfluss und treibt das Universum mit wachsender Geschwindigkeit auseinander. Am Ende wird das sichtbare Universum verschwinden, die bestehende Materie wird in elementare Teilchen zerfallen und bis zum absoluten Nullpunkt abkühlen. Die Naturgesetze, wie wir sie heute kennen, ja selbst Raum und Zeit könnten sich womöglich auflösen und die für den menschlichen Verstand zum Teil absurden Gesetze der Quantenphysik gewinnen wieder die Oberhand. Theoretisch ist das Universum aus so einer Quantenfluktuation hervorgegangen; theoretisch kann das Ende des Universums auch wieder sei Neuanfang sein. Wir wissen es nicht.

 

Werden und Vergehen

Ich weiß, meine Betrachtung ist etwas einseitig, denn eigentlich wird die Vergänglichkeit auch immer von einem Entstehen begleitet. Aus dem, was vergeht, entsteht wieder etwas Neues. Aus verwelkten Blumen wird wieder Erde und aus der Erde erwächst wieder Leben. Aus Sternenleichen werden wieder neue Sonnensysteme und Planeten. Aus einem Schwarzen Loch, das vergeht, wird Strahlung. Der Energieerhaltungssatz in der Physik postuliert, dass die Welt ein geschlossenes System ist und keine Energie verloren gehen kann. Albert Einstein formulierte dies in seiner berühmten Formel E = mc². Energie vergeht und wird in Materie umgewandelt. Materie vergeht und zerstrahlt zu ungeheuren Mengen an Energie (wie in der Kernkraft oder Kernfusion). Vielleicht ist es realistischer die physische Welt als Kreislauf des Werdens und Vergehens zu betrachten.

Darauf weist auch Buddha kurz vor seinem Tod nochmal hin:

„Hab ich denn das, Anando, nicht vorher schon verkündet, dass eben alles, was einem lieb und angenehm ist, verschieden werden, aus werden, anders werden muss? Woher könnte das hier, Anando, erlangt werden, das was geboren, geworden, zusammengesetzt, dem Verfall unterworfen ist, da doch nicht verfallen sollte: das gibt es nicht.“

– Buddha (Siddhattha Gotama)

Buddha hat dieses Naturgesetz in einfache Worte gefasst:

„Alle zusammengesetzten Dinge sind vergänglich.“

– Buddha (Siddhattha Gotama)

In anderen Übersetzungen werden die „zusammengesetzte Dinge“ auch mit „Erscheinungen“ übersetzt. Da wir hier nicht von physikalischen Elementen oder dem „Ding an sich“ sprechen, sondern meist von Sinneserfahrungen und Gedanken, erscheint das einleuchtend. Wir entfernen uns damit von dem wissenschaftlichen Exkurs und gehen über zu einer etwas subjektiveren Betrachtung.

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FOTO: Supernova Remnant Puppis A von Stuart Rankin, lizensiert unter CC BY-NC 2.0, Foto bearbeitet, Original von NASA/ESA.