Die Wegweiser

Ich überlege, was schmerzhafte Erfahrungen in meinem Leben waren und ob sie in irgendeinem Zusammenhang mit der Vergänglichkeit stehen. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung war, als meine erste Liebe sich von mir trennte. Liebe ist vergänglich. Ein anderes einschneidendes Ereignis war als Kind ein Umzug, der mich mit einem Schlag all meiner Freunde beraubte. Freundschaft ist vergänglich. Und vor zehn Jahren starb ein wichtiges Familienmitglied, an dem ich sehr hing und dessen Tod mich bis heute mit Trauer erfüllt. Auch geliebte Menschen sind nicht ewig da.

Ich frage mich, ob das der Kern der Vergänglichkeit ist? Dass wir zwangsläufig das verlieren, was wir lieben. Was wiederum zu Schmerz, Trauer, Wut und Angst vor dem bevorstehenden Verlust führt.

Wir streben natürlicherweise danach angenehme Zustände zu erhalten und Dinge, die uns lieb und teuer sind, zu bewahren. Bei Genüssen, die schnell vorüber gehen, streben wir nach Wiederholung, nach Erneuerung der Erfahrung, obgleich wir merken, dass ein Genuss sich dadurch abnutzt. Dagegen bei unangenehmen Erfahrungen und Gefühlen hoffen wir, dass sie so schnell wie möglich vorübergehen. Hier wird die Vergänglichkeit quasi zu unserem Verbündeten.

„Weh ruft: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

– Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“

In der buddhistischen Philosophie ist genau das der Grund für unser Leiden. Wir halten an etwas fest, das uns glücklich macht. Wir haben Angst es zu verlieren. Wir werden wütend, wenn es uns jemand nehmen will. Wir sind traurig, wenn es nicht mehr da ist. Wir sehnen uns danach zurück. Wir verzweifeln an uns selbst, wenn unsere Hoffnungen und Wünsche sich nicht erfüllen.

„Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind.“

„Vergänglichkeit ist das Merkmal eines jeden Umstandes, einer jeden Situation, auf die du treffen wirst. Alles wird sich verändern, es wird verschwinden oder es wird dich nicht länger befriedigen.“

– Buddha (Siddhattha Gotama)

Aber so einfach diese Erkenntnis auch erscheinen mag, so schwierig ist es, ihr im Alltag ins Auge zu sehen. Unser Geist hat sich zahlreiche Strategien erarbeitet, dieses Bewusstsein der Vergänglichkeit zu verdrängen. Das hat auch pragmatische Gründe. Denn es ist eine schmerzliche Wahrheit, dass all die Beziehungen, die uns lieb sind, all die Erfahrungen, die uns gut tun, und all die Dinge, die uns wichtig sind, nicht von Dauer sind. Wir klammern uns an perfekte Ideale, an Vorstellungen, wonach wir unser eigenes Glückes Schmied sind, wir suchen nach allgemeingültigen Wahrheiten oder glauben an metaphysische Versprechen, wir setzen all unsere Hoffnungen in unsere Kinder oder in unseren Nachlass. Das ist, was ich als die Rebellion des Geistes gegen die Vergänglichkeit bezeichne.

Ich beobachte diese Rebellion des Geistes auch an mir selbst und in alltäglichen Situationen. Mein Geist sucht nach Ablenkung, nach Zerstreuung. Er lässt sich von Serien, Filmen und Musik berieseln. Er flüchtet sich in wiederholbare Genüsse wie Konsum und Essen. Er spinnt ein Netz von Ideen, Hoffnungen und Plänen, wie alles besser werden kann. Er lindert die Trauer, den Schmerz und den Verlust, indem er unangenehme Erinnerungen einfärbt, umdeutet oder allmählich vergisst. Er strebt immer wieder nach neuen Erfahrungen und Unterhaltungen, damit keine Langeweile und Ermüdung aufkommt. Damit ihm niemand auf die Schliche kommt und bemerkt, wie er sich eigentlich nur im Kreis bewegt und die immer gleichen Muster des Denkens sich ständig wiederholen.

Ich habe mir in den letzten Wochen die Frage vorgelegt, wie ich besser mit der Vergänglichkeit umgehen kann. Wie kann ich sie mir bewusst machen, ohne Angst zu haben? Wie kann ich sie erkennen, ohne Zuflucht zu dem einen oder anderen metaphysischen Hintertürchen zu nehmen (z.B. durch den Glauben an eine unsterbliche Seele)? Wie kann ich die knallharte Wahrheit akzeptieren, dass nichts Bestand hat, ohne dabei in Fatalismus oder Nihilismus zu verfallen? Wie soll ich damit klar kommen, dass ich eines Tages aufhören werde zu existieren?

Die Antwort fällt mir schwer. Ich gehe diesen Weg erst seit kurzem und viele Antworten, nach denen ich suche, liegen noch im Dunkeln. Sie sind mir nur schemenhaft bewusst. Diese Artikelserie ist ein erster Versuch der Annäherung. Aber diese Annäherung ist noch rein intellektuell, nicht wirklich konsequent in meinem Herzen verankert. Die Meditation ist das Mittel meiner Wahl und die buddhistische Philosophie ist mein Weg, diese Erkenntnisse zu vertiefen. Das soll nicht heißen, dass dies das einzige Mittel oder der beste Weg ist. Ich bin überzeugt, es gibt viele Wege, wie wir die Vergänglichkeit zu unserem Lehrmeister machen können, anstatt sie zu leugnen und zu bekämpfen. Denn wie dieser Kampf ausgeht, ist bereits entschieden.

„Gegen alles, sagt das Sprichwort, gibt es Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im strengsten Sinn ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben. Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen Fall gibt, wo er schlechterdings muss, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, was er nur muss und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten und ihn, wie auch wirklich bei den meisten Menschen der Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkt gebunden ist.“

– Friedrich Schiller, „Über das Erhabene“

Vergänglichkeit erkennen

Wie bei vielen Veränderungen so steht auch hier am Anfang die Erkenntnis. Wir müssen uns darüber klar sein, dass unser Geist beständig gegen diese Erkenntnis arbeitet, weil sie leidvoll ist. Unser Geist strebt nach Ordnung, nach Beständigkeit, nach Zusammenhang, nach Regelmäßigkeit, nach Allgemeingültigem, nach dauerhaftem Glück. Das ist – vereinfacht gesagt – das genaue Gegenteil von dem, was Vergänglichkeit bedeutet. Vergänglichkeit erscheint auf den ersten Blick als Ungewissheit, Veränderung, Zufälligkeit, Unvorhersehbarkeit, Komplexität, Kontrollverlust und Leiden.

Aber, obgleich unser Geist es verschleiert, ist unterschwellig dieses Leiden, diese Unzufriedenheit, diese existentielle Unerfülltheit immer präsent. Erkenntnis bedeutet in diesem Fall also vor allem, diese unangenehmen Gefühle, die wir sonst unterdrücken, einfach mal zuzulassen: Schmerz, Angst, Trauer, Sorgen, Verwirrung, Einsamkeit, Liebeskummer usw. Denn diese Gefühle sind die Wegweiser, um einen klaren und unverfälschten Blick auf die Vergänglichkeit zu erhalten.

Warum ist die Erkenntnis der Vergänglichkeit so schmerzhaft? Weil uns dadurch klar wird, woran wir festhalten. Weil uns bewusst wird, was wir alles verlieren können, ja, was wir notwendigerweise eines Tages verlieren werden. Weil die Illusion erschüttert wird, wir könnten die Dinge besitzen, wir könnten das Glück dauerhaft erhalten oder das Leid verhindern. Der talentierte Magier in unserem Kopf hat diese Wunschwelt erschaffen.

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus.

Wie können wir die Vergänglichkeit erkennen? Wir müssen uns nur eine elementare Frage vorlegen: Gibt es etwas in unserem Leben, das dauerhaft ist? Gibt es etwas, das unverändert existiert? Gibt es etwas, das uns beständig glücklich macht? Dazu durchmustern wir unser Leben nach dem, was uns wichtig ist, und überlegen, wie beständig diese Dinge sind, die uns am Herzen liegen. Ich habe mir dazu folgende Übung erarbeitet:

Dem Vergänglichen nachspüren

Setz dich bequem hin und versuch Ruhe in deinen Körper einkehren zu lassen. Achte beispielsweise auf deinen Atem oder auf einen anderen Punkt in deinem Körper. Lass alles von dir abfallen, was dich gerade beschäftigt. Es gibt jetzt nichts Besonders zu wollen, nichts Besonderes zu tun, nichts Besonderes zu sein. Wenn Gedanken auftauchen, lass sie einfach vorbeiziehen wie das Blatt, das langsam auf einem See vorbeitreibt.

Wenn du dich ein wenig entspannt hast, kann es losgehen.

Denk zuerst an einen materiellen Gegenstand, der dir wichtig ist. Das kann zum Beispiel deine Wohnung sein oder ein Einrichtungsgegenstand, das kann eine Sammlung von Büchern oder Schallplatten sein, das kann ein Kunstgegenstand oder ein Instrument sein, oder einfach das Smartphone in deiner Tasche.

Stell dir diesen Gegenstand vor deinem inneren Auge in all seinen Einzelheiten vor. Versuche auch zu fühlen, welche Bedeutung dieser Gegenstand für dein Leben hat. Warum ist er dir wichtig?

Jetzt stell dir vor, wie dieser Gegenstand zerstört werden oder verloren gehen kann. Stell dir vor, du kommst eines Tages nach Hause und deine Wohnung ist ausgebrannt. Oder es wurde eingebrochen und jemand hat den geliebten Gegenstand gestohlen. Oder der Gegenstand ist durch einen Unfall kaputt gegangen. Stell dir weitere Szenarien vor, was alles passieren kann.

Beobachte deine Gefühle dabei. Wenn Gefühle der Angst oder Sorge aufsteigen, dann lass sie aufsteigen. Das ist ganz normal. Spüre ihnen nach, ohne dich von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Wenn die Gefühle zu stark werden, kehre zurück zu deinem Atem und lass wieder Ruhe in deinen Körper einkehren.

Denk als nächstes an eine Beziehung, die dir am Herzen liegt. Das kann der eigene Partner oder die Partnerin sein, ein Familienmitglied, ein Freund oder eine Freundin, die dir nahe steht. Denk einfach an den ersten Menschen, der dir einfällt.

Stell dir diesen geliebten Menschen vor und wie wichtig er für dein Leben ist. Erinnere dich an das, was ihr gemeinsam erlebt habt. Spür den Gefühlen nach, die aufkommen, wenn du an diesen Menschen denkst.

Jetzt stell dir vor, wie deine Beziehung zu diesem geliebten Menschen enden kann. Vielleicht kommt dein Partner eines Tages nach Hause und sagt dir, dass er sich neu verliebt hat und ausziehen wird. Oder du erfährst, dass ein geliebter Mensch aus deiner Familie tödlich verunglückt ist. Oder der Freund oder die Freundin, die dich schon so lange durch dein Leben begleitet hat, meldet sich nicht mehr und reagiert auch nicht auf deine Anrufe und Mails.

Beobachte deine Gefühle dabei. Spüre ihnen nach, ohne dich von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Wenn die Gefühle zu stark werden, kehre zurück zu deinem Atem und lass wieder Ruhe in deinen Körper einkehren.

Denk als drittes an eine persönliche Eigenschaft, die dich auszeichnet. Vielleicht hast du einen besonderen Beruf, der dir Spaß macht. Oder du bist ein Spezialist auf einem bestimmten Fachgebiet. Oder du bist einfach nur sehr selbstbewusst und es fällt dir leicht, andere Leute kennen zu lernen. Oder du schreibst gern. Oder du tanzt gern. Oder du betreibst einen bestimmten Sport.

Du kannst auch an eine Eigenschaft denken, über die du sonst nicht nachdenkst. Beispielsweise, dass du gesund bist. Dass du rational denken kannst. Dass du dich frei in der Welt bewegen kannst, usw.

Stell dir diese individuelle Eigenschaft vor deinem inneren Auge vor. Stell dir die Vorteile für dein Leben vor, für dein Wohlbefinden, für die Verwirklichung deiner Wünsche.

Jetzt stell dir vor, du würdest diese persönliche Eigenschaft plötzlich einbüßen. Sie würde von einem auf den anderen Tag nicht mehr da sein. Stell dir vor, wodurch das geschehen kann. Du könntest deine Arbeit verlieren. Du könntest einen Unfall erleiden. Du könntest krank werden. Du könntest Opfer einer Verleumdung werden. Du könntest eines Tages erwachen und zwei Männer in Zivil stünden vor deiner Tür, um dich zu verhaften, usw.

Beobachte deine Gefühle dabei. Spüre ihnen nach, ohne dich von ihnen gefangen nehmen zu lassen.

Beende die Meditation, indem du wieder zu deinem Atem zurückkehrst und Ruhe in deinen Körper einkehren lässt.

Vielleicht erscheint diese Übung am Anfang etwas merkwürdig. Warum sollte man sich vorstellen, all das zu verlieren, was man besitzt und was einem wichtig ist? Oder es kommen sehr starke Gefühle und Verlustängste hoch? Beides ist verständlich.

Ich betrachte es gern als Inventur dessen, was mir wichtig ist. Woran hängt mein Herz denn eigentlich? Durch diese Übung sind auch überraschende Einsichten ans Tageslicht gekommen. Ich könnte mich zum Beispiel problemlos von all meinen Büchern und CDs trennen, aber ein paar Dateien auf meinem Laptop stellen einen Schatz dar, den aufzugeben ich nicht bereit bin. Ich stelle mir vor, wie der Computer zerstört wird mitsamt allen Backups, und es zieht sich in mir zusammen. Mich hat es überrascht, so stark an materiellen Dingen zu hängen.

Wir können die Übung aber auch auf den Kopf stellen. Dann wird sie gleich etwas konkreter und realitätsnaher. Denken wir an ein starkes unangenehmes Gefühl, das wir zuletzt empfunden haben wie Ärger, Angst, Ungeduld, Wut, Sorge, Trauer, Reue, Liebeskummer usw. Dann überlegen wir in welchem Zusammenhang diese Gefühle mit der Vergänglichkeit stehen. Die Antwort ist radikal: Alle diese Gefühle stehen in Verbindung mit ihr. Wir haben Angst, dass angenehme Erfahrungen enden oder nicht eintreten werden. Wir sind traurig, weil ein geliebtes Haustier gestorben ist. Wir bereuen eine Handlung, weil sie zum Bruch mit einem Freund geführt hat. Wir sind ungeduldig, weil ein gewünschter Augenblick noch nicht eingetreten ist. Wir sind wütend auf uns selbst, weil wir einen wichtigen Termin verpasst haben. Wir sorgen uns um Job und Zukunft. Und darüber hinaus hängt unser Herz an tausend kleinen Dingen.

„Die holden Wünsche blühen,
Und welken wieder herab,
Und blühen und welken wieder –
So geht es bis ans Grab.

Das weiß ich, und das vertrübet
Mir alle Lieb und Lust;
Mein Herz ist so klug und witzig,
Und verblutet in meiner Brust.“

– Heinrich Heine

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